In unserer Gesellschaft gibt es zahlreiche Konventionen und Erwartungen wie Sterben, Tod und Trauer zu verlaufen haben. Wenn aber die eigene Geschichte diesen Erwartungen nicht entspricht, setzt das die Betroffenen unter großen Druck.

Bei mir ist Ingrid*, sie ist Anfang 80. Ihr Mann ist verstorben. Beide sind geboren kurz vor Kriegsbeginn. Das waren Jahren, in denen man als Kind wenig Liebe, wenig Aufmerksamkeit bekam. Die Väter blieben im Krieg, wie mir Ingrid sagte. Mit 14 Jahren ging sie bereits arbeiten, um die Familie mit zu versorgen. Selbstverwirklichung war kein Thema. Man wurde dazu erzogen stark zu sein. Gefühle und Trauer hatten wenig Platz. Sie durften nicht gezeigt werden.

Ingrid und ihr Mann bauen sich eine kleine Existenz auf, haben zwei Kinder, mehrere Enkel und schon einen Urenkel. Bereits vor 10 Jahren wurde ihr Mann dement. Sie konnte ihn nicht selbst versorgen, deshalb kam er in ein Pflegeheim. Viele Jahre des täglichen hin und her pendeln. Bald erkannte er Ingrid nicht mehr und ein Austausch war nicht mehr möglich. Die letzten Jahre erschöpften sie. Zuletzt verstirbt ihr Mann mit Covid 19. Die Familie kann noch gut Abschied nehmen mit einem Kerzen- und Trostengel-Ritual am verschlossenen Sarg.

Doch nach der Beisetzung quälen Ingrid widersprüchliche Gedanken und Gefühlen.

 

Stimmt etwas nicht mit mir?

 

Im geschützten Raum erfahre ich von Ihr: Sie ist seit vielen Jahren gewohnt allein zu leben und hat ihr Leben im Griff. Eine ihrer Töchter wohnt auch ganz in der Nähe. Und.., ja schon, ihr Mann ist tot und irgendwie ist es anders, aber halt auch nicht viel anders. Ingrid fühlte sich traurig bei der Beisetzung ihres Mannes, insbesondere als die Lieder gespielt wurden, die sie ausgesucht hatte rollten die Tränen.

Aber sie muss ja auch stark sein. Wenn jemand anruft, erlaubt sie sich auf keinen Fall zu weinen. Das darf nicht sein. Also manchmal, wenn sie ganz allein ist weint sie schon…

 

Ingrid erzählt mir: „Ehrlich gesagt habe ich ein ganz schlechtes Gewissen, weil es mir ja so gut geht, seit ihr Mann starb. Ich habe Zeit für mich, kann tun und lassen was ich möchte. Vor allem muss ich nicht mehr in das Pflegeheim und kann ausschlafen. Ehrlich gesagt, für meinen Mann war der Tod eine Erlösung. Er hätte nie so leben wollen. Doch ich wage das alles nicht laut zu sagen. Von mir ist eine echte Last abgefallen!“

 

 

Trauer und Tabus

 

Erleichterung über den Tod des eigenen Ehemannes? Darf das sein? Und das gerade in Coronazeiten, wo jedes Menschenleben gerettet werden soll? Nein – würden die meisten Menschen sagen. Oder?

Oft ist es den Hinterbliebenen in so einem Fall nicht möglich, ihre Gefühle zu akzeptieren und sich selbst wirklich ernst zu nehmen. Und doch ist es kein Einzelfall. Die Betroffenen plagt das Gewissen und sie fragen sich, ob sie noch ganz „normal“ seien. Die meisten sprechen nicht darüber aus Scham oder „fressen“ Ihre Gewissenbisse in sich hinein. Sie haben Angst, als kaltherzig oder gleichgültig abgestempelt zu werden.

Das macht den Betroffenen aber schwer in einen, für sie „gesunden“ Trauerprozess zu kommen.

Hier kann eine nahe Bezugsperson helfen, bei der man sich sicher fühlen kann. Ebenso Trauergruppen, Seelsorger oder Sterbeammen. Menschen, die dir zuhören und dich und deine Situation annehmen, wie sie eben grad ist und nicht den unmoralischen Zeigefinger heben. Was du brauchst ist einen geschützten Raum ohne Angst vor Stigmatisierung.

 

 

*Die Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit Begebenheiten von lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

 

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