Ein Anruf der Mama – Tom*, ihr Sohn hat sich das Leben genommen. In ein paar Tagen wäre er zwanzig geworden. Toms Leichnam wurde von der Polizei beschlagnahmt. Das ist ein ganz normaler Ablauf bei einem Suizid, aber auch bei einem Unfall oder plötzlichen Tod mit ungeklärter Ursache.

Wir vereinbaren einen Termin zu Hause. Die Eltern möchten nicht nach draußen. Noch zu frisch ist der Schock über das Geschehene und die lähmende Fassungslosigkeit. Es ist auch etwas Scham dabei…

Wir setzen uns in die Küche, gemütlich ist es hier. Tom’s Eltern, der größere Bruder und ich. Sie erzählen mir von einer fröhlichen Kindheit, zeigen mir Bilder von einem blonden Jungen und lachenden Gesichtern. Doch als Tom ca. 15 Jahre war, hat sich etwas verändert. Wie das geschah und wann es war, das weis so genau keiner. Tom wurde sehr ernst, hat viel hinterfragt, zog sich immer mehr zurück, hat wenig gesprochen. Er mochte es allein zu sein. Am liebsten war er im Wald mit dem Fahrrad unterwegs.

In wenigen Monaten hätte er sein Abitur gemacht. Die Eltern sprechen von depressiven Phasen und davon, dass sie keinen richtigen Zugang mehr zu ihrem Sohn fanden. Auch sprachen sie mit Tom, dass sie Angst haben, dass ES passieren könnte…

 

Er hatte es versprochen!

 

Der letzte gemeinsame Tag war ein sonniger, warmer Herbsttag. Sie waren alle bei den Großeltern und halfen den Garten winterfest zu machen. Anschließend haben alle gemeinsam noch zu Abend gegessen. Tom war wir immer, verschlossen zwar, aber niemanden ist etwas aufgefallen.

Im Nachhinein…, er war in den letzten Tagen besonders zuvorkommend. Er murrte nicht wie sonst, wenn er etwas erledigen sollte. Er hat es einfach gemacht.

In der Nacht ist ES dann passiert. Die Mutter hat ihn gefunden am Morgen. Notarzt, Polizei, Beschlagnahmung…

… und furchtbare Bilder im Kopf. Alle weinen und das Entsetzen ist ihnen in das Gesicht geschrieben.

Er hatte es doch versprochen!

 

 

Abschied nehmen

 

Schuldgefühle, das gebrochene Versprechen, die (Ent-)Täuschung darüber und die schrecklichen Bilder vom gestrigen Geschehen überlagern alles. Deshalb ist es wichtig der ganzen Familie einen versöhnlichen Abschied zu ermöglichen, so dass eine Chance gegeben wird, den Verlust wirklich annehmen zu können.

Nach der Freigabe durch die Staatsanwaltschaft wird Tom’s Leichnam vom Bestatter abgeholt, gewaschen und angekleidet. Er trägt seinen Lieblings-Kapuzenpulli und eine Jogginghose. Er mochte es bequem. Die Eltern haben ihm seine braune Lieblingsdecke mitgegeben, als Teil der Einbettung in den Sarg.

 

Als ich Tom ansehe, wirkt er auf mich wie Dornröschen im Schlaf.

Wer wird ihn wohl wachküssen, da wo er jetzt ist?

 

Die Eltern sowie die engsten Verwandten haben Briefe geschrieben, Bilder und Dinge mitgebracht, Trostengel bemalt, die sie Tom auf seine letzte Reise mitgeben wollen.

Zuerst gehen die Eltern und der große Bruder allein zu ihm, in den Abschiedsraum. All die Verzweiflung, der Schmerz brechen nun heraus. Nie ausgesprochene Dinge können gesagt werden. Irgendwann wird das Weinen und Klagen ruhiger, der Rest der Familie kommt hinzu. Der Abschied dauert einige Stunden. Auch der Pfarrer, der Tom konfirmierte wurde gebeten dazu zu kommen. Die Familie hatte sich einen kirchlichen Segen für Tom gewünscht.

Weinen ist wichtig in dieser Situation. Sie bringen im wahrsten Wortsinn die Trauer zum Fließen. Sie bringen in Bewegung, was drohte ins Stocken zu geraten.

 

Tränen reinigen das Herz

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

 

 

Die Schreckensbilder verwandeln

 

Ein versöhnliches Bild, so sagen mir die Eltern, würden sie nun mitnehmen.

Mit einem Abschied wird ein Gegengewicht geschaffen zu den belastenden Bildern, die sonst wohl ein Leben lang begleiten. Damit können wieder die schönen Bilder, die Bilder der Erinnerung, die mit lachenden Gesichtern wiederhergestellt werden.

Den Verstorbenen noch einmal friedlich zu sehen und das „BE-greifen“ des Todes – wortwörtlich mit den Händen – dass das Leben gegangen ist. Dies Erfahrung wird ermöglichen, den toten Körper loszulassen und in eine neue, andere Verbindung zu gehen.

 

 

*Die Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit Begebenheiten von lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

 

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